Kind, du bist uns anvertraut

Wenn Kinder sexuell missbraucht werden, dann handelt es sich um Gewaltverbrechen. Studienleiterin Dr. Ulrike Haerendel spricht sich dafür aus, den Begriff „sexualisierte Gewalt“ aus diesem Grund zu verwenden. Dass die Politik den Kampf gegen diese Art von Verbrechen nun zur Chefsache erklärt hat, sei richtig und wichtig, schreibt sie hier. Darüber hinaus sei aber auch noch etwas weiteres vonnöten: eine aufmerksame Zivilgesellschaft.

Im Tauflied bekräftigen wir eine Wahrheit, die ganz einfach ist: Kinder brauchen den Schutz und die Fürsorge von Erwachsenen, um gut aufzuwachsen. Indes erschrecken uns immer wieder Fälle, wie gerade aktuell in Münster, die genau das Gegenteil zeigen: Erwachsene, die ihren Platz im Leben der Kinder ausnützen, um ihnen schweres seelisches und physisches Leid zuzufügen. Insofern missbrauchen sie ihre Rolle als Beschützende und Fürsorgende und das Vertrauen, das man ihnen nicht nur „natürlicherweise“, sondern auch durch Gesetze (bes. Art. 6 GG) und andere kulturelle Normierungen zu Familie, Kindeswohl und Erziehungsberechtigung zuspricht. Was die Taten selbst angeht, sollte man sich eher angewöhnen, von sexualisierter Gewalt zu sprechen, da dieser Begriff dem Kern der Handlungen näherkommt als die ältere und sprachlich etwas verunglückte Rede vom „Kindesmissbrauch“.

Es geht hier um Gewaltverbrechen, wie auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht gerade durch Gesetzesreformen verdeutlichen will. Kein Täter soll mit der Einstufung als minderschweres „Vergehen“ davonkommen, die Mindeststrafe künftig ein Jahr Haft betragen. Das gilt auch für den Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie. Diese Straftaten müssen auch deshalb hart geahndet werden, weil das Internet und digitale Medien die Möglichkeiten, Videos der Gewalttaten in die ganze Welt zu streuen, potenziert haben. „Dieses zweite (die Aufnahme) und dritte (die digitale Verbreitung) Verbrechen wirkt wie eine Endlosschleife der Traumatisierung für die Opfer“, schreibt Julia von Weiler in unserer Dokumentation „Kindheitsverletzungen“.[1] Aufnahmen, die einmal ins Netz Eingang gefunden haben, sind nicht mehr aus der digitalen Welt zu löschen. 30.000 Internetspuren, die zu potenziellen Gewalttätern und Verbreitern von Kinderpornographie führen, haben die Ermittler allein im Fall Bergisch Gladbach gefunden, berichten die Medien dieser Tage.

Diese Dimensionen sind mehr als erschreckend und für den Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs Johannes-Wilhelm Rörig erneut Anlass, auf die politische Verantwortung hinzuweisen, die nicht nur der Bund, sondern auch alle Landesregierungen haben: Sie müssten „das Maximum tun, um das Entdeckungsrisiko zu erhöhen“ und die Gefährdung von Kindern durch sexualisierte Gewalt „zur Chefsache“ machen. Das ist richtig und wichtig, zum Beispiel auch wegen der Kapazitäten, die für die Polizeiarbeit dann zur Verfügung stehen. Tausende Internetspuren heißt auch tausende Ermittlungsansätze, denen nachgegangen wird. Und jeder Tag früher, an dem ein Täter entdeckt wird, ist ein gewonnener Tag für das betroffene Kind.

Andererseits, auch das macht Rörig deutlich, ist es natürlich nicht allein Chefsache und nicht allein eine Aufgabe für die Politik, Kinder in unserer Gesellschaft zu schützen. Wir brauchen „starke Ermittler, starke Jugendämter und starke Familiengerichte“ und, so könnte man vielleicht hinzufügen, eine starke, wachsame Zivilgesellschaft: Nachbarn, die nicht wegsehen, Lehrkräfte, die sensibel auf „auffälliges“ Verhalten reagieren, Freunde, die ansprechbar sind, und Familienmitglieder, die nicht tabuisieren, wenn sie das wahrnehmen, was es eigentlich gar nicht geben dürfte. Und wir brauchen Orte, in denen das, was auf den Tisch muss, auf den Tisch kommt – in denen sanktionsfrei und offen berichtet werden kann und in denen Empathie und Expertise Vertrauen schaffen. Als ein solcher Ort hat sich die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ seit vier Jahren etabliert, die bereits 1200 Anhörungen Betroffener durchgeführt hat und noch für viele weitere Gespräche bereit ist, denn „jede Geschichte zählt“, wie es auf der Homepage heißt.

In den vergangenen Jahren haben wir auch die Akademie zu einem Ort des Diskurses über das Leid der Kinder, die Aufarbeitung institutioneller Verantwortung und den politisch-gesellschaftlichen wie auch wissenschaftlichen Umgang mit dem Thema gemacht. Zu verschiedenen Tagungen[2] haben wir Experten aus Wissenschaft und Praxis, Personal aus Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, Psychologen, Ärzte und nicht zuletzt Betroffene eingeladen, um miteinander zu diskutieren, was bisher in der Aufarbeitung geschehen ist und wie es weitergehen muss. Unser „Anchorman“ bei diesen Veranstaltungen war Prof. Dr. Heiner Keupp, Sozialpsychologe und Gründungsmitglied der Unabhängigen Kommission. Ob bei Tagungen mit Opfern sexueller Gewalt in der Kindheit oder bei der Abschlusstagung des bayerischen Fonds Heimerziehung – für Heiner Keupp ist ganz zentral, sich den Betroffenen zuzuwenden, ihnen zuzuhören und mit ihnen Lösungen zu finden, die Heilung und Versöhnung mit der eigenen Biografie ein Stückweit voranbringen können.

Während der Corona-Krise haben wir mit Prof. Keupp, der unserem Haus seit langem verbunden ist, im Format „Rotunde-Talk“ gesprochen.[3] Auch wenn verschiedene Anläufe zunächst nicht zufriedenstellend waren, hat er doch ein gewisses Vertrauen in verantwortliche Institutionen wie Kirchen und Diakonie, mit der Vergangenheit umzugehen und für die Zukunft solches Leid zu verhindern. Wichtig sei allerdings, dass Aufarbeitungsgremien nicht nur aus den eigenen Reihen gebildet würden, denn in solche Gremien würden Betroffene kein Vertrauen setzen. Insbesondere die Kirchen müssten hier auch unabhängige Experten und Vertretungen der Opfer zulassen.

Keupp erinnerte im Gespräch aber auch daran, dass Familie der häufigste Ort für sexualisierte Gewalt an Kindern sei. Die Coronakrise sei leider ein Katalysator, denn wenn Familien gezwungen sind, „Tag und Nacht unter einem Dach zu bleiben und keine Ausweichmöglichkeiten mehr vorhanden sind“, dann könnten Gewalt und sexuelle Übergriffe noch zunehmen. Genaueres werde man erst im Nachhinein wissen, aber schon jetzt häuften sich die Indizien etwa bei den Notfalltelefonen. In diesem Zusammenhang äußerte Keupp auch die Hoffnung, dass die „Systemrelevanz“ der Beratungsstellen für hilfesuchende Gewaltopfer erkannt werde.

Auch wenn in das Familienleben mit der Wiedereröffnung von Kindertagesstätten und Schulen allmählich wieder Normalität einkehrt, wir müssen uns bewusst bleiben: Für manche Kinder ist jeder Tag prekär, die Bedrohung stets vorhanden. Wir können uns an vielen Stellen stark machen zum Schutz der Schwächsten: in der Schule, in den Vereinen, in der Gefahrenaufklärung, in der Medienerziehung … Und, wir können uns auf eine Kultur des Hinsehens verständigen, denn auch für uns als Gesellschaft gilt: „Kind, du bist uns anvertraut.“

Dr. Ulrike Haerendel
(weitere Informationen zur Autorin)

[1] Kindheitsverletzungen – Beiträge aus der Tagungsarbeit der Evangelischen Akademie Tutzing zum Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche (= epd-Dokumentation Nr. 32-33), Frankfurt a.M. 2018. Bestellbar unter: https://www.epd.de/fachdienst/dokumentation/ausgaben_2018.

[2] Kind, du bist uns anvertraut, 29.-31. Januar 2016: https://www.ev-akademie-tutzing.de/veranstaltung/kind-du-bist-uns-anvertraut/; Kindheitsverletzungen, 20.-22. Oktober 2017: https://www.ev-akademie-tutzing.de/veranstaltung/kindheitsverletzungen/; Heimkindheiten, 28./29. November 2018: https://www.ev-akademie-tutzing.de/veranstaltung/heimkindheiten/.

[3] https://www.youtube.com/watch?v=3-PyO3B3DLA.

Bild: Dr. Ulrike Haerendel