Jenseits von Risiko und Resilienz: Gesellschaften und Biosphäre vor dem Kipppunkt

“Zuschauen keine Option”, meint Gastautor Fabian Scheidler. Der Berliner Publizist und Dramaturg ist Autor mehrerer Bücher, die sich mit den Wurzeln globaler Krisen beschäftigen. In diesem Text zeigt er Auswege aus der Gesellschafts- und Biosphärenkrise auf und erläutert, warum “destruktive Subventionen” abgeschafft werden müssen, weltweit alle entscheidenden Instanzen aufgefordert sind, gemeinsam zu agieren und warum es darüber hinaus neue rechtliche Rahmenbedingungen braucht.

von Fabian Scheidler

Im Dezember 2020 veröffentlichten 250 renommierte Klima- und Erdsystemwissenschaftler:innen einen offenen Brief in der britischen Tageszeitung The Guardian, in dem sie dazu aufriefen, sich angesichts des absehbaren Scheiterns der Klimapolitik mit der Möglichkeit eines Zerfalls oder Zusammenbruchs der gegenwärtigen Zivilisation im Laufe dieses Jahrhunderts auseinanderzusetzen.[1] Der Aufruf ist keine schwarzmalende Apokalyptik, sondern ergibt sich aus der Datenlage. Vieles spricht dafür, dass von den 15 bekannten Kipppunkten im Erdsystem neun kurz bevorstehen. Dazu gehört ein Umkippen des Amazonas-Regenwaldes, der sich durch Entwaldung und Klimastress weit eher als bisher angenommen in eine Savanne verwandeln könnte und dabei gigantische Mengen CO2 freisetzen würde; die tauenden Permafrostböden in Sibirien, in denen Unmengen des Treibhausgases Methan gespeichert sind; und das Abschmelzen der Eismassen in Grönland und der Westantarktis, das langfristig zu einem Meeresspiegelanstieg von 14 Metern führen würde – das Ende für die meisten Küstenregionen der Erde. Werden diese Kipppunkte tatsächlich überschritten, lassen sich die selbstverstärkenden Prozesse auch mit hochambitionierten Klimaschutzmaßnamen nicht mehr aufhalten. Dies alles lässt sich in der Kategorie berechenbarer und kontrollierbarer „Risiken“ längst nicht mehr fassen.

Wenn solche Szenarien verhindert werden sollen, haben wir im besten Fall noch ein Zeitfenster von wenigen Jahren, um unsere Emissionen drastisch zu reduzieren, genauer gesagt: bis 2030 um mindestens 80 Prozent in den Industrieländern. Dafür wäre ein fundamentaler Umbau unserer Infrastrukturen und unseres Wirtschaftsweise notwendig, einschließlich einer empfindlichen Einschränkung der Überkonsumption der reichsten Schichten. Dass die tonangebenden Regierungen zu solchen Schritten trotz wachsender weltweiter Proteste nicht bereit sind, hat zuletzt die UN-Klimakonferenz in Glasgow gezeigt. Bei vielen anderen kritischen Entwicklungen, etwa dem rasanten Verlust von Biodiversität, sieht es trotz zahlreicher internationaler Konferenzen und vollmundiger Erklärungen ähnlich aus.

Unsere Gesellschaften befinden sich also in einer extrem kritischen Situation. Sie stehen vor irreversiblen Kipppunkten und die große Politik lässt sie systematisch im Stich. Diese Lage stellt eine außerordentliche Belastung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für die psychisch-emotionale Gesundheit und für die Motivation, sich politisch zu engagieren, dar. Eine großangelegte Studie unter Menschen zwischen 16 und 25 Jahren in zehn Ländern kam zu einem erschreckenden Ergebnis: Mehr als die Hälfte der Befragten war der Auffassung, dass die Menschheit dem Verderben geweiht sei (“humanity is doomed”), und vier von zehn zögern angesichts dieser Lage, Kinder in die Welt zu setzen.[2] Dieser Befund ist beispiellos. Und er zeigt, dass die Versprechungen der Politik – und auch eines beträchtlichen Teils der Zivilgesellschaft –, man könne mit ein paar technischen Änderungen wie Elektroautos zugleich das Klima und unserer bisherigen “Way of Life” retten, völlig von der Wahrnehmung der jungen Generation entkoppelt sind.

Resilienz als Antwort?

In diesem Zusammenhang ist immer öfter davon die Rede, dass Menschen und menschliche Gemeinschaften angesichts der zunehmenden Verwerfungen Resilienz aufbauen sollen. Der Begriff bezeichnet die Fähigkeit komplexer Systeme, ihre Funktionsweise bei wandelnden Umweltbedingungen und Teilausfällen aufrechtzuerhalten. Obwohl es natürlich richtig und wichtig ist, sich auf Klimachaos und Systemkrisen vorzubereiten, ist der inflationäre Gebrauch dieses Begriffs inzwischen problematisch geworden. Wenn Militärorganisationen davon sprechen, ihre Systeme gegen das Klimachaos resilient zu machen, oder Manager von Ölkonzernen Seminare belegen, um ihre psychische Resilienz in krisengeschüttelten Zeiten zu stärken, dann geht es letztlich nur darum, einen tödlichen Status Quo abzusichern. Der Begriff kann auch dazu dienen, politische Verantwortung von den höheren Ebenen auf kleine Gemeinschaften und Individuen abzuwälzen. Kommunen dabei zu unterstützen, Resilienz gegen das heraufziehende Klimachaos aufzubauen, ist zwar an sich sinnvoll und notwendig, es wird aber zu blankem Zynismus, sobald es als Ersatz für wirksame Klimapolitik auf den höheren Ebenen dient. Wenn die Himalaya-Gletscher aufgrund unserer Emissionen in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein werden und damit die Wasserversorgung von bis zu 1,5 Milliarden Menschen in der warmen Jahreszeit zusammenbricht, was soll dann, angesichts der Unbewohnbarkeit ganzer Regionen, Resilienz für ein indisches Dorf bedeuten?

Perspektiven für einen umfassenden Umbau

Sinnvolle Antworten auf die Biosphärenkrise können nur gemeinsam auf allen Ebenen gegeben werden, vom Dorf über die Städte und Nationalstaaten bis zur UN, und auf allen Politikfeldern: vom schnellen Ausstieg aus den fossilen Energien über die Anpassung an bereits irreversible Zerstörungen bis zur Finanzierung der Lasten im globalen Süden und der Frage der Klimaflucht.

Der Internationale Währungsfonds kommt zu dem Ergebnis, das die fossilen Energien jährlich mit der unvorstellbaren Summe von 5000 Milliarden Euro subventioniert werden. Die Steuerzahler finanzieren also die Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlagen. Hinzu kommen allein in Deutschland zweistellige Milliardenbeträge jedes Jahr für die Auto- und die Luftfahrtindustrie. Die EU-Kommission hat jüngst auch noch den absurden Vorstoß unternommen, Erdgas und Atomkraft in ihre Klimaschutzstrategie aufzunehmen und mit weiteren Milliarden zu fördern. Diese destruktiven Subventionen müssen umgehend beendet werden. Das gilt auch für die Förderung der industriellen Landwirtschaft und Massentierhaltung, die erheblich zur Biosphärenzerstörung beiträgt. In Verbindung mit einer fairen Besteuerung von Konzernen und der reichsten Schichten, die für den größten Teil der Emissionen verantwortlich sind, könnten durch die Abschaffung fehlgeleiteter Subventionen enorme Summen freigesetzt werden, die sich für ein umfassendes Transformationsprogramm nutzen ließen: Rückbau der schädlichen Industrien, dafür massive Investitionen in Bildung, Kultur, öffentliche Gesundheit, Verkehrswende, ökologische Landwirtschaft, klimafreundlichen Umbau der Städte und dezentrale erneuerbare Energien in Bürgerhand. Ein solcher Umbau kann mit einem deutlichen Gewinn an sozialer Gerechtigkeit, Lebensqualität und demokratischer Partizipation verbunden sein. Er lässt sich aber nur durchsetzen, wenn es gelingt, breite gesellschaftliche Allianzen dafür aufzubauen.

Gesellschaftliche Kipppunkte

Aber was, wenn sich in den kommenden Jahren herausstellt, dass dies alles nicht reicht oder zu spät kommt? Wenn die Kippunkte überschritten werden und wir auf ein “Hothouse” von drei bis fünf Grad Erwärmung zusteuern? Ist dann alles Engagement vergeblich und der Untergang der Menschheit gewiss? Keineswegs. Denn der Kampf um jedes Zehntel Grad Erwärmung, das verhindert werden kann, bleibt in jedem Fall von entscheidender Bedeutung für die Lebenschancen von Hunderten Millionen von Menschen. Allein die Verlangsamung der Klimaveränderungen kann einen lebensrettenden Zeitgewinn für die Anpassung bedeuten. Hinzu kommt: Ein Planet, der ungastlicher wird, fordert uns dazu heraus, unsere Wirtschaftsweise und die Formen unseres Zusammenlebens vollkommen neu zu erfinden und neue Formen der Solidarität zu entwickeln. Die Aufgaben werden also größer, nicht kleiner. Sowohl international wie national brauchen wir außerdem einen neuen Rechtsrahmen, der Verbrechen gegen die Biosphäre konsequent als Ökozid ahndet und Klimaflüchtlingen umfassende Rechte gewährt.

Utopisch? Unmöglich? Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es nicht nur im Klimasystem Kipppunkte gibt, sondern auch in sozialen Systemen. Der Zerfall einer gesellschaftlichen Ordnung, wie wir ihn derzeit erleben, führt in eine chaotische Phase, in der selbst kleine Bewegungen unter Umständen große Wirkungen entfalten können. Niemand hätte zum Beispiel voraussagen können, dass ein Teenager mit Aspergersyndrom und einem Pappschild vor dem schwedischen Parlament eine globale Klimabewegung mit Millionen von Menschen in Gang setzen würde. Die Coronakrise hat diese Dynamik zwar unterbrochen, doch die Geschichte ist nach wie vor offen. Alles, was wir tun und was wir nicht tun, kann potenziell einen Beitrag dazu liefern, in welche Richtung die gesellschaftlichen, biosphärischen und atmosphärischen Systeme kippen werden. Zuschauen ist also keine Option. Es kommt auf uns alle an.

Fabian Scheidler ist freischaffender Autor und Journalist. Sein Buch “Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation” wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien von ihm im Piper Verlag “Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen”. www.fabian-scheidler.de

Hinweis: Zum Thema wird im Januar ein Online-Diskussionsabend mit dem Titel “Risiko und Resilienz – Corona hier und global” stattfinden. Den genauen Zeitpunkt geben wir auf unserer Homepage www.ev-akademie-tutzing.de bekannt.

[1] www.theguardian.com/environment/2020/dec/06/a-warning-on-climate-and-the-risk-of-societal-collapse

[2] Elisabeth Marks et al.: Young People’s Voices on Climate Anxiety, Government Betrayal and Moral Injury: A Global Phenomenon. The Lancet, 7.9.2021

Bild: Fabian Scheidler (Foto: privat)