Digitale Medien wirken für Missbrauchsopfer wie eine „Endlosschleife“

Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat sich durch das Aufkommen der digitalen Medien fundamental verändert: Die Taten sind festgehalten und bleiben sichtbar. Für die Betroffenen hat die Tatsache der Verbreitung weitreichende Folgen. Für Julia von Weiler, Vorstand von „Innocence in Danger“, findet der Missbrauch dadurch mehrfach statt. Ihr Beitrag ist Bestandteil der aktuellen Ausgabe epd-Dokumentation „Kindheitsverletzungen“, die Beiträge aus der Tagungsarbeit der Evangelischen Akademie Tutzing zu diesem Thema zusammenfasst.

Die Öffentlichkeit steht entsetzt vor dem Missbrauchsfall von Staufen und den Qualen, die einem kleinen Jungen über Jahre von seiner Mutter und dem Stiefvater angetan wurden. Wie konnte das mitten unter uns geschehen? Wer hat es wann an Aufmerksamkeit fehlen lassen? Und wie verhindern wir, dass Kinder Opfer solcher Taten werden?

Auf diese Fragen suchen auch die Autoren der gerade erschienenen epd-Dokumentation „Kindheitsverletzungen“ Antwort. Sie sammelt Beiträge aus der Tagungsarbeit der Evangelischen Akademie Tutzing zum Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.

Die Dokumentation benennt den „Tatkontext Familie“ an erster Stelle: Die Soziologin Barbara Kavemann mahnt aufgrund ihrer Beobachtungen aus Interviewstudien an, Prävention stärker auf den familiären Bereich auszudehnen. Als Leiterin des Jugendamtes Stuttgart lenkt die zweite Autorin Susanne Heynen den Blick auf die Notwendigkeit der internen Schulungen und Vernetzungen der beteiligten Professionen im Interesse einer Verbesserung des Kinderschutzes.

Neben der Familie werden „schulische Tatorte“ – am Canisius-Kolleg, bei den Regensburger Domspatzen, in den Klosterinternaten Ettal und Kremsmünster sowie im einstigen Flaggschiff der Reformpädagogik, der Odenwaldschule – in dieser Dokumentation beleuchtet. Betroffene und Experten der Aufarbeitung berichten über die Vergangenheit, deren oft unzulängliche Aufarbeitung und die mühsamen Schritte, die noch zu gehen sind, um mehr wirksamen Kinderschutz zu erreichen.

Erinnerungen, die nicht verblassen können

Das ist im Zeitalter des Internets und der Sozialen Medien komplizierter geworden, weil der vielfache Missbrauch, der über die digitale Verbreitung geschieht, nicht mehr einzufangen ist. Julia von Weiler, Psychologin und Geschäftsführerin von„Innocence in Danger e.V.“, der deutschen Sektion eines internationalen Netzwerks gegen sexuellen Missbrauch, schreibt in ihrem Beitrag: „Digitale Medien verändern das Phänomen sexueller Gewalt fundamental. Die Gewalttat ist dokumentiert, in der Zeit festgefroren und für alle sichtbar. Betroffene, deren Missbrauchsdarstellungen verbreitet wurden, leiden an genau diesen Punkten. Wie sollen Erinnerungen verblassen, wenn doch klar ist, sie existieren in HD und Dolby Surround?“

Und ein weiterer Punkt kommt dazu: Die Angst der Betroffenen, aufgrund der Aufnahmen erkannt zu werden. Die Psychologin von Weiler schreibt weiter: „Dieses zweite (die Aufnahme) und dritte (die digitale Verbreitung) Verbrechen wirkt wie eine Endlosschleife der Traumatisierung für die Opfer.“

Institutionen können dazulernen, aber wer sorgt für den Schutz von Jugendlichen vor Cybergrooming (Anbahnung sexueller Kontakte im Internet) und digitalem Exhibitionismus? Eltern und Schulen müssen hier viel mehr Verantwortung übernehmen.

Die Dokumentation „Kindheitsverletzungen“ geht nicht zuletzt auf die Verantwortung der evangelischen Kirche ein, die jetzt sehr intensiv daran arbeitet, in der Vergangenheit Versäumtes besser zu machen. „Was eine Verpflichtung gegenüber den Opfern von Missbrauch und Gewalt ist, bedeutet auf der anderen Seite Schritte zur Prävention“, so auch Studienleiterin Dr. Ulrike Haerendel in ihrer Einleitung.

Die 90-seitige Publikation ist als epd-Dokumentation 32/33 erschienen und kann kostenpflichtig bestellt werden. Weitere Informationen hier.

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