“Alles ist richtig” – Rückblick auf die Tagung “Leben geben”
“Anfänge zwischen Wunsch und Wirklichkeit” – mit diesen Worten war die Tagung vom 19.- 20. Mai untertitelt. In diesem Tagungskommentar fasst Tamara Hübner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Universität Hildesheim, ihre Eindrücke zusammen.
Wie beginnt ein Leben?
Diese Frage begleitete uns über anderthalb Tage durch viele Bereiche: philosophische, theologische, medizinethische, gesellschaftspolitische und nicht zuletzt persönliche. Auch wenn die Frage erstmal nahezu einfach klingt, haben wir in der Tagung wieder einmal gemerkt, wie komplex und existenziell sie ist.
Prof. Dr. Christine Schües eröffnete die Veranstaltung mit einem philosophisch fundierten Vortrag zum Thema Gebürtlichkeit und Verantwortung. Geboren sein bedeutet dabei – angelehnt an Hannah Arendt – mehr als ein biologisches Ereignis. Es wird als ein relationales und politisches Ereignis verstanden, als ein Anfang, der Menschen in Beziehungen setzt, lange bevor sie sich aktiv erinnern oder entscheiden können. Gebürtlichkeit ist angefangen zu werden, abhängig zu sein und gleichzeitig zum Anfang fähig zu sein. Auch: Verantwortung zu übernehmen. Prof. Schües‘ Beitrag machte deutlich: Wer geboren wird, tritt ein in eine Welt der Pluralität und in Beziehungen: Die Geburt ist nicht einfach gegeben, sondern verlangt nach einer Kultur des Willkommens. Dabei wurde auch die Frage aufgeworfen, wie sich diese Verantwortung durch die Geburt heute unter Bedingungen sozialer Ungleichheiten überhaupt gestalten lässt.
Prof. Dr. Maren Bienert, Professorin für Systematische Theologie an der Universität Hildesheim, richtete ihren Blick auf ein Feld mit vielen Leerstellen: Mutterschaft in der theologischen Ethik. Sie machte deutlich, wie eng Mutterschaft historisch mit Idealen von Natürlichkeit, Aufopferung und Leidensfähigkeit verknüpft ist. Ob in der protestantischen Tradition oder in der liberalen Theologie: Mutterschaft wurde meist funktionalisiert oder überhöht, jedoch selten als konkrete Erfahrung thematisiert. Die historische Entwicklung von der Reformation über die Romantik bis ins 20. Jahrhundert zeigt, wie eng Mütterlichkeit mit dieser Vorstellung von Natürlichkeit, Selbstlosigkeit und weiblicher Bestimmung verknüpft wurde und, man muss leider auch sagen, wird. Maria wird dabei zur Projektionsfläche: verehrt, aber unerreichbar. Die Mutter als Heilige – nicht als reale Frau. Maren Bienert plädiert für eine Neubewertung der Mütterlichkeit jenseits von Idealisierung oder Verklärung, die auch reale Erfahrnisse von Ambivalenz, Gewalt und Unverfügbarkeit berücksichtigt.
Ruth Denkhaus, Theologin und Expertin für Gesundheitsethik, richtete den Blick auf die oft unsichtbare Realität ungewollter Kinderlosigkeit und die Rolle der Reproduktionsmedizin. Zwischen Wunsch, Technologie und gesellschaftlicher Norm bewegen sich viele Betroffene in Spannungsfeldern aus Hoffnung, Scham, Tabu und körperlicher wie emotionaler Belastung. Dabei wurde noch einmal deutlich, wie die Debatte um künstliche Befruchtung einmal mehr aufzeigt, wie stark das Ideal der “natürlichen Mutterschaft/Elternschaft” normativ aufgeladen ist und wie selektiv Unterstützung gewährt wird.
Der Blick auf eine Geburtsstation in der ZDF-Miniserie “Push” führte uns in die gelebte Praxis: unterbesetzte Stationen, zu wenig bzw. überarbeitete Fachkräfte und zutiefst unterschiedliche Bedürfnisse von Gebärenden. In der anschließenden Gesprächsrunde mit der leitenden Fernsehredakteurin Diana Kraus, Drehbuchautorin Luisa Hardenberg, Hebamme Mechthild Hofner und Gynäkologin Dr. Katharina Volquarts wurde deutlich: Geburt ist kein privates Ereignis, sie ist strukturell, politisch und zutiefst kulturell geprägt. Ein Moment hat uns beim Ansehen besonders getroffen: Eine Mutter entschuldigt sich bei ihrem Kind – weil es per Kaiserschnitt geboren wurde. Darin steckt so viel: die Angst, etwas falsch gemacht zu haben, die Last von Erwartungen, die stille Botschaft: Du musst richtig gebären, sonst bist du keine “richtige” Mutter.
Und dann kam etwas, das besonders in Erinnerung geblieben ist: der Satz von Diana Kraus “Alles ist richtig”. Ein Satz, der einfach klingt und trotzdem eine enorme entlastende Kraft entfalten kann.
Es ist ein Ruf nach Anerkennung vielfältiger Lebensentwürfe, verschiedener Formen von gelebter Mutterschaft, von Nicht-Mutterschaft, von Brüchen und Neuanfängen – jenseits von Scham, Idealisierung und normativen Bildern. Der Satz stellt sich einer Kultur des ständigen Bewertens, Vergleichens und Urteilens entgegen – auch wenn ich natürlich weiß, dass es manchmal nicht so einfach ist.
Die Beiträge haben allesamt gezeigt: Wer über Geburt spricht, spricht über Gesellschaft und über die Bereitschaft, gemeinschaftlich Verantwortung zu übernehmen.
Dr. Christina Constanza, Rektorin des Theologischen Studienseminars der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, (VELKD) zeigte uns eindrücklich, wie Mutterschaft und Familie im Alltag auch hier, wenn auch anders, von etwas Privatem zu etwas Öffentlichem wird: in sozialen Medien wie zum Beispiel auf Instagram. Wir leben in einer Welt, in der Mutterschaft geprägt ist von Idealbildern, von der, in der Tagung eingehend thematisierten, natürlichen, hingebungsvollen Vorstellung von Müttern.
Christina Constanza stellte Versuche vor, die Darstellung von Elternschaft in sozialen Netzwerken zu normalisieren bzw. zu entfiltern. Diese stellen jedoch weiterhin nur die Ausnahme dar. Es handelt sich dabei um eine neue Lebenswelt, in der wir uns zurechtfinden und die wir mitdenken müssen. Eine Welt, in der Mütter dem ständigen Vergleich mit der scheinbar perfekten Welt von Mütter-Influencerinnen (“Momfluencerinnen”) ausgesetzt sind und dadurch einem immer weiter wachsenden Vergleich und sozialem Druck ausgesetzt sind.
Die abschließende Lesung von Anne Theiß hat uns auf unterhaltsame und erstaunliche Weise mit auf eine literarische Reise durch die anspruchsvolle Lebensrealität von Müttern genommen und Raum geschaffen für einen gewinnbringenden Austausch.
Nach der Tagung bleiben Fragen zurück, die zum Weiterdenken anregen. Zum Beispiel stellte sich wiederholt die Frage nach dem Motiv der “Natürlichkeit” im Kontext von Mutterbildern, Geburt und Kinderwunsch. Was bedeutet eigentlich “natürlich” und wem nutzt es? Es werden Maßstäbe geschaffen, an denen viele Mütter verzweifeln.
Auch die Frage danach, wer eigentlich wie anfangen darf (Hilfe beim Kinderwunsch, Kostenübernahme von künstlicher Befruchtung bei nicht heteronormativen Zwei-Eltern-Familiensystemen), lohnt sich sicherlich weiter zu verfolgen. Denn bei allen Fragen rund um Geburt und Mutterschaft sollten soziale Schieflagen und marginalisierte Gruppen nicht aus dem Blick geraten.
Tamara Hübner
Bild: Podiumsdebatte mit ZDF-Redaktionsleiterin Diana Kraus (ganz links), Drehbuchautorin Luisa Hardenberg (2.v.l.), Gynäkologin Dr. Katharina Volquarts (Mitte) und Hebamme Mechthild Hofner. Ganz rechts im Bild: Studienleiter Dr. Hendrik Meyer-Magister. (Foto: dgr/eat archiv)