“Was hat die Geschichte mit meinem Leben zu tun?”

In ihrer Kanzelrede sprach sich Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, für mehr Empathie, Verantwortung und eine lebendige Erinnerungskultur aus.

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Corona und die Menschen, der Holocaust und seine Aufarbeitung, Umgang mit Ängsten und Verunsicherung, Wissenschaft und Emotionen – in ihrer Kanzelrede am 11. Oktober 2020 schlug die Historikerin Dr. Mirjam Zadoff eine bemerkenswerte Brücke zwischen der aktuellen Krise und der Verantwortung der Deutschen gegenüber ihrer Geschichte.

“Erinnern ist nicht nur ein umstrittener Prozess, es ist auch ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist.”, sagte die Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München in der Erlöserkirche in München-Schwabing. Dass dieser Prozess wichtiger ist als je zuvor, machte Zadoff in einem Vergleich deutlich: 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bedeute leider auch: ein Jahr nach dem antisemitischen Anschlag in Halle.

Die Verbindung zwischen Geschichte und Gegenwart: Zadoff sieht sie als essenziell. Geschichte sei sowohl Grund als auch Ursache politischer Realitäten, wie etwa der Tod des US-Amerikaners George Floyd und die Ausschreitungen und Demonstrationen, die darauf in den USA folgten, in diesem Jahre gezeigt hätten. Vergangenheit müsse als “Orientierungssystem” begriffen werden.

Die Menschen, die die Unterdrückung und Zerstörung von Minderheiten während der Zeit des Nationalsozialismus miterlebt hätten würden immer weniger, so Zadoff. Das Wissen über die Katastrophe nehme ab. Umso wichtiger sei es, Berührungen damit herzustellen und die Frage “Was hat die Geschichte mit meinem Leben zu tun?” als Aufforderung zur Auseinandersetzung wahrzunehmen, um eine lebendige Erinnerungskultur zu schaffen – “keine Show und keine politische Instrumentalisierung”.

Berührung bedeute eine Erweiterung der rationalen Zugänge: nicht etwa nur ein Vertrauen in die Wissenschaft, sondern auch ein Ernstnehmen der Emotionen. Beispielhaft nannte sie hier die Entwicklung in der historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Erst langsam sei auf die Zeit der “Geschichts- und Gedächtnislosigkeit der deutschen Nachkriegsgeschichte” ein “Öffnen der Black Box” ab den 1970er Jahren geschehen. Bis die Historiker allerdings Opferberichte als legitime Zeugnisse der Geschichte wahrnahmen, habe es gedauert. Ein wichtiger Schritt, um Berührung mit dem Thema herstellen zu können.

Einen ähnlichen Stellenwert hätten Versammlung, Nähe und Austausch für die Demokratie. In Zeiten von Corona zeige sich auch: Um Einsamkeit zu überwinden, brauche es die Umarmung – die besonders dann eine Rolle spiele, wenn sie unmöglich geworden ist.

“Empathie braucht sich nicht auf”, ist Mirjam Zadoff überzeugt. Das gelte sowohl für Erinnerung als auch Gegenwart – in Geschichte und aktuellem sozialem Miteinander. Sie forderte dazu auf, Vielfalt aufzunehmen und anderen Kulturen einen “Platz in der Mitte der Gesellschaft” zu geben.

Dorothea Grass

Weiterführende Infos:

Die Kanzelrede wird zweimal im Jahr von der Evangelischen Akademie Tutzing in Kooperation mit ihrem Freundeskreis veranstaltet. Die nächste Rede findet am 14. März 2021 mit dem Umweltaktivisten Felix Finkbeiner statt.

Bild: Dr. Mirjam Zadoff (Foto: ma/eat archiv)

In der Erlöserkirche in München-Schwabing: Akademiedirektor Udo Hahn, Dr. Mirjam Zadoff und Brigitte Grande, Vorsitzende des Freundeskreises der Evangelischen Akademie Tutzing (ma/eat archiv)

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