Totgesagte leben länger

Vor 70 Jahren sind Theodor Adornos “Minima Moralia” erschienen. Stefan Müller-Doohm, Student von Theodor W. Adorno und heute Leiter der Forschungsstelle Intellektuellensoziologie und Gründer der Adorno-Forschungsstelle an der Universität Oldenburg, schreibt in diesem Blogbeitrag, dass Adornos “tagebuchartig zusammengetragene Aphorismen” auch heute wichtige “Spannungsfelder von Paradoxien” bieten.

                                                                   

Von Stefan Müller-Doohm

“Bücher verändern sich mit der Zeit, zumindest verändert

                                                                      sich die Art, wie wir sie lesen.”

                                                                      (Julian Barnes)

Kritische Theorie ist ein Titel, den Max Horkheimer 1937 in die Welt gesetzt hat. Heute kann von ihr nur im Plural die Rede sein. Auffällig ist, dass ihre generationsspezifischen Varianten und tonangebenden Repräsentanten erkennbar im Aufwind sind. In der Zeitschrift Mittelweg wird ihre Aktualität vor dem Hintergrund der Ökologiedebatte diskutiert und gefragt, woher der derzeitige Hunger nach Theodor Adorno, Walter Benjamin, Jürgen Habermas und anderen kommt. Eine passende Ergänzung dazu ist die Veröffentlichung der Briefwechsel zwischen Adorno und Hans Magnus Enzensberger im letzten Heft von Sinn und Form. Hier erfährt der Leser, was Adorno nach langem Abwägen davon abgehalten hat, im Wahljahr 1965 das Godesberger Programm der SPD zu kritisieren. Das regt an zu spekulieren, ob sich der damals einflussreichste Intellektuelle heute ähnlich defensiv verhalten würde?

Das noch vor der Corona-Krise erschienene zweibändige Alterswerk von Jürgen Habermas mit dem Titel Auch eine Geschichte der Philosophie ist seit Erscheinen nicht nur Gegenstand anhaltender Debatten in der Fachwelt von Philosophen, Theologen und Soziologen. Vielmehr hat es eine breite Beachtung in den Medien gefunden. Die Resonanz auf dieses Buch macht sich die Zeitschrift für Ideengeschichte zu Nutze und bringt ein reich bebildertes Heft heraus, das ausschließlich dem Wirken des international geschätzten Philosophen gewidmet ist. Und sein vor sechzig Jahren erschienener Klassiker Strukturwandel der Öffentlichkeit ist wiederum für die renommierte sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Leviathan der Anlass für zahlreiche Rückblicke auf jene Studie, in der er die historische Entstehung und Transformation der Öffentlichkeit sowie ihrer Medien analysiert hat.

Minima Moralia – vor siebzig Jahren erschienen

Nicht genug der Jubiläen. Dass vor siebzig Jahren die Minima Moralia erschienen sind, Adornos persönlichstes und erfolgreichstes Buch, dem Habermas den Rang eines Hauptwerks zuspricht, ist wiederum ein guter Grund für zahlreiche Retrospektiven von Adornos “Reflexionen aus dem beschädigten Leben”. Beschädigt ist nicht nur das individuelle Leben des ins Exil gezwungenen Emigranten. Adornos Bestandsaufnahme ist umfassender. Beschädigt ist sowohl das Subjekt, das Adornos Diagnose zufolge historisch verurteilt sei als, auch die vom Menschen unterworfene Natur. Die äußere ebenso wie die innere Natur seien Opfer einer blind sich selbst erhaltenden Gesellschaft. Was könnte angesichts der Umwelt- und Klimakrise brisanter sein als Adornos Postulat eines Umgangs mit der Natur “ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen”. Heute wäre es ein Akt vernünftiger Freiheit, das hat Adorno antizipiert, “Möglichkeiten ungenutzt” zu lassen, “anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen”.

Adorno notiert in seinen tagebuchartig zusammengetragenen Aphorismen, dass das Leben zu einer zeitlosen Folge von Schocks geworden sei, vermittelt durch die täglichen Bilder über weltweite Kriege und systematische Menschvernichtung. Für ihn ist Auschwitz kein “Betriebsunfall des zivilisatorischen Siegeszuges”, sondern Signatur der Epoche. “Man kann nicht Auschwitz auf eine Analogie mit der Zernichtung der griechischen Stadtstaaten bringen als bloß graduelle Zunahme des Grauens, der gegenüber man den eigenen Seelenfrieden bewahrt.” Eine Notiz, die als Kommentar der gegenwärtigen Diskussion zu den deutschen Kolonialverbrechen und der Singularität des Holocaust gelesen werden kann.

Mit seiner Gesellschafts- und Moralkritik hat es Adorno geschafft, eine Position zu besetzen, die in der Situation der Erschütterung traditioneller Wertorientierungen vakant war. Er übernahm die Funktion des öffentlichen Intellektuellen, indem er die moralischen Ansprüche dieser Gesellschaft mit ihrer Wirklichkeit konfrontierte. Wenn das “Ganze das Unwahre” ist, wandelt sich Moral zu einer verschwindend kleinen Bezugsgröße. Der Akzent liegt dann darauf, über die gesellschaftlichen Ursachen für das Scheitern eines moralischen Lebens zu reflektieren. Das meint Adorno, wenn er die Frage stellt, wie “richtiges Leben im falschen” möglich sei.

Moralisch empfindsam und unmoralische Zeiten

Was könnte einen Leser unserer Tage an Adornos Minima Moralia fesseln? Es ist nicht zuletzt das szenisch Dargestellte, es sind die bildlich entworfenen Skizzen, die den Eindruck erwecken, der Leser sei selbst Teil des Geschehens und ganz persönlich gemeint. Gerade dadurch, dass er das Triviale der zwischenmenschlichen Beziehungen ernst nimmt und zugleich deutend erschließt, löst er beim Leser jene Aha-Erlebnisse aus, die für viele aus der Lektüre dieser Miniaturen resultieren. Kennzeichnend für diese Aphorismen ist, dass sie ein Spannungsfeld von Paradoxien entstehen lassen: “Einzig durch die Anerkennung von Ferne im Nächsten wird Fremdheit gemildert: hineingenommen ins Bewußtsein” Oder: “Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll”.

Auch heute noch können wir die Minima Moralia als Texte lesen, die auf ungeahnte Spuren führen, die zum Abenteuer des Weiterdenkens animieren, ein Weiterdenken, das auch die Kritik am Negativismus der Zeitdiagnosen des radikalen Gesellschaftskritikers einschließt. Die Bedeutung dieses Buches als Teil einer Hinterlassenschaft, die sich allen Formen bloßer Musealisierung widersetzt, besteht darin, den Leser anzuleiten, der Dissonanzen im eigenen Leben nicht nur innezuwerden, sondern sie auch auszudrücken: ihn zu einem Denken zu ermuntern, das offen genug ist, sich auch gegen sich selbst zu wenden.

Zum Autor:
Prof. em. Dr. Stefan Müller-Doohm ist Leiter der Forschungsstelle Intellektuellensoziologie und Gründer der Adorno-Forschungsstelle an der Universität Oldenburg. Hier lehrt er
Soziologie mit dem Schwerpunkt Interaktions- und Kommunikationstheorien. Seine Arbeitsschwerpunkte in Lehre und Forschung liegen in den Bereichen: Soziologische Theorien/Gesellschaftstheorie, Kommunikationsforschung/Medientheorie/Kultursoziologie sowie Intellektuellensoziologie.

Hinweis:

Stefan Müller-Doohm wird auf der Tagung “Adornos Minima Moralia”, die vom 22. bis 24. Oktober 2021 an der Evangelischen Akademie Tutzing stattfindet, zum Thema “Das Glück der individuellen Existenz – Lebensgeschichtliche Spuren in der Bilderwelt der ‘Minima Moralia’” sprechen.

Informationen zum Ablauf und zu den Anmeldemodalitäten finden Sie hier.

Der Beitrag ist zugleich die Gastkolumne im Oktober-Newsletter der Evangelischen Akademie Tutzing. Mehr dazu hier.