Jean Asselborns Festrede zum Jahresempfang 2019

Nein, wir können uns nicht auf uns zurückziehen und anderen das Terrain überlassen. Dies wäre in der Tat grob fahrlässig!

Am Ende ist die Frage immer dieselbe: Wollen wir in der EU weiterhin die Standards setzen für Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Umweltschutz, Verbraucherschutz, Produktsicherheit usw. oder wollen wir, dass andere dies für uns tun? Es gibt da draußen mehr Interesse als einem lieb sein kann, diese Rolle von der EU zu übernehmen! Und die agieren nicht unbedingt im Einklang mit unseren Werten: In vielen Gegenden der Welt gilt ganz einfach noch – oder sollte ich sagen wieder – das Recht des Stärkeren.

Dass Handelskriege zu Krieg führen können, ist keine leere Behauptung: Unsere eigene Vergangenheit, die des europäischen Kontinents, hat uns gezeigt, welche Konsequenzen der Wettlauf um Rohstoffe und die gewaltsame Eröffnung von Märkten haben können.

Das Welthandelssystem, das wir nach dem zweiten Weltkrieg zuerst mit dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen und dann mit der WTO, der Welthandelsorganisation, aufgebaut haben, sollte Teil einer weltumfassenden Antwort sein, um die Beziehungen zwischen Ländern auf Basis des Dialogs und der Zusammenarbeit zu gestalten. So sollte der freie Zugang zu Märkten, basierend auf der gemeinsamen Erschaffung von Verhaltensregeln, den Welthandel friedfertig gestalten.

Diese Bemühungen wurden mit Erfolg gekrönt.

Allerdings brachte das System auch seine Schattenseiten mit sich. So war der Welthandel zu lange den reichen Ländern vorbehalten. Bis heute hat er den ärmsten Ländern nur bedingt geholfen. Wiederum andere Länder, zum Beispiel China, konnten sich dem Welthandel zwar öffnen, aber der politische Wandel und der vollständige Übergang von Plan- zu Marktwirtschaft blieben aus.

Die 164 Mitglieder der Welthandelsorganisation tun sich heute schwer, neue Regeln auszuarbeiten und den Anforderungen des Digitalzeitalters gerecht zu werden. Hinzu kommt, dass die geltenden Verpflichtungen zu oft missachtet werden.

Es hilft nicht unbedingt, wenn die Wirtschaftsmacht Amerika den Eindruck gibt ohne Rücksicht auf ihre Partner oder auf den Fortbestand der multilateralen Strukturen zu agieren, und die Spielregeln maßgeblich alleine bestimmen zu wollen.

Was kann Europa tun? Am wichtigsten ist, dass die EU in ihrer Antwort vereint bleibt, sich nicht selbst das Bein stellt. Europa muss sich zur Wehr setzen und notfalls mit Gegenmaßnahmen reagieren, wenn europäische Wirtschaftszweige regelwidrig und unberechtigt unter Beschuss geraten. Wir müssen aber auch den Dialog suchen und uns bemühen, zwischen jenen zu vermitteln, die die Probleme verursachen und jenen deren Antwort nicht im Einklang mit internationalem Recht ist. Das ist selbstverständlich einfacher gesagt als getan. Die EU hat Vorschläge gemacht, um die Blockadehaltungen in der WTO zu überwinden, vor allem, um das unabhängige Streitbeilegungsgremium – das Kronjuwel der Welthandelsorganisation – zu retten. Die nächsten Monate werden uns zeigen ob wir es fertig bringen, die WTO wieder auf das richtige Gleis zu bringen.

Wir dürfen aber auch nicht naiv sein und können nicht ausschließen, dass sich Konfliktparteien sowohl auf Kosten des multilateralen Systems sowie auf Kosten der EU einigen könnten. Das müssen wir verhindern. In diesem Kontext gebe ich zu bedenken, dass die EU in einer besseren Ausgangsposition gewesen wäre, wenn wir es in der Vergangenheit fertig gebracht hätten, aus der Wirtschaftsmacht Europa eine vereinte politische Macht zu bilden!

Meine Damen und Herren, Kommissionspräsident Juncker hat im September letzten Jahres in seiner Rede zur Lage der Union vor dem Europäischen Parlament betont, dass Europa eine Führungsrolle auf der weltpolitischen Bühne einnehmen muss. Europa soll eine „Weltpolitikfähigkeit“ entwickeln, um die Geschicke der Welt als Union mitzugestalten. In ihrer globalen Strategie für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik beansprucht die EU bereits eine strategische Autonomie, um die gemeinsamen Interessen unserer Bürger sowie unsere Grundsätze und Werte zu fördern. Es gilt hier, das auf Regeln und Multilateralismus beruhende internationale System zu bewahren und auszubauen.

Angesichts der zunehmenden Turbulenzen in der internationalen Politik halte ich es für notwendig, in außenpolitischen Fragen den Zwang zur Einstimmigkeit aufzuheben. Mit anderen Worten: Wir müssen die Abhängigkeiten der Europäischen Union verringern und endlich den Weg in Richtung Mehrheitsentscheidungen wagen, ansonsten riskiert die Union, zu einem außenpolitischen Zwerg zu werden! Wir haben in den letzten Monaten mit ansehen müssen, wie die EU durch die Starrsinnigkeit eines einzigen oder einiger weniger Mitgliedstaaten auf der internationalen Bühne stumm sein musste. Dies ist der EU absolut unwürdig und eine solche Verweigerungshaltung sollte einen Preis haben für die betroffenen Mitgliedstaaten. Als Paradebeispiel für diese Problematik könnte man hier die Verabschiedung des UNO-Migrationspaktes in Marrakesch im Dezember letzten Jahres anführen. Europa sprach mit drei Stimmen, ein Desaster. Einige Tage später in New York stimmte Europa wieder nicht einheitlich für eine sichere, geordnete und reguläre Migration. Dasselbe gilt für den Flüchtlingspakt, obwohl dieses Papier von der UNO-Flüchtlingshilfe, der UNHCR ausgearbeitet wurde. So verkommt die EU auf außenpolitischem Parkett zu einer Randnotiz.

Ich war immer überzeugt, dass wir uns in der EU nach dem schweren Zerwürfnis beim Irak-Krieg und aufbauend auf dem Geist des Lissabonner Vertrags einig wären, dass es eine eigenständige souveräne EU-Außenpolitik geben müsste.

Zehn Jahre nach dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags sehe ich gute Anzeichen, wie die geeinte Position in Sachen iranischer Nuklearpolitik, aber leider auch negative Anzeichen, wie unser Verhalten im Friedensprozess zwischen Israel und Palästina zeigt. Der Europäische Rat hat einstimmig, in gewohntem Pomp, beschlossen, zur Zwei-Staaten-Lösung zu stehen, d.h. unter anderem Jerusalem als Hauptstadt Israels und Palästinas anzusehen. Kurz danach zeigt der Kompass, unter Druck der amerikanischen Administration, in die entgegengesetzte Richtung: Ein halbes Dutzend EU-Mitgliedstaaten enthalten sich bei der Abstimmung in der UN Generalversammlung über die Verlegung der US Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Dies tut in der Sache nicht nur politisch weh, denn mittel- und langfristig wird die Sicherheit Israels nur garantiert sein, wenn auch die Palästinenser ihren Staat mit ihrer historischen Hauptstadt haben, dies zusammen mit Israel.

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