Jean Asselborns Festrede zum Jahresempfang 2019

Für mich ist es auch ganz klar, dass die „Trumpsche Theorie“ des Patriotismus, im Sinne eines „Deutschland zuerst“ oder „France d’abord“ nicht das Modell für das 21. Jahrhundert in Europa sein kann. Aber die Lehren der Geschichte lassen sich eben nicht so einfach in 280 Schriftzeichen umsetzen …, wenn man es dann wollte.

Kommen wir nun zu ihrer Frage: Wohin geht die Reise? Wohin steuert die EU?

Eine wichtige Frage, besonders einige Monate vor den Wahlen zum Europaparlament am 26. Mai dieses Jahres. Wenn es dann ein Vorteil sein sollte, seit 15 Jahren im Rat der EU-Außenminister sitzen zu dürfen, kann es zuweilen auch ein Nachteil sein, oder sagen wir eine Motivationsbremse, denn ich erlebe zu oft eine große Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Lassen sie mich erklären: Auch vor 15 Jahren war die Weiterentwicklung der EU nicht immer ein Spaziergang. Erinnern wir uns. Nachdem Spanien im März 2005 mit mehr als 60% Zustimmung im Referendum den Verfassungsvertrag angenommen hatte, folgten die negativen Referenden im Mai und Juni in Frankreich und den Niederlanden.

Die Europäische Hymne und die EU-Flagge wurden aus dem Verfassungsvertrag gestrichen und es kam zu einer Anpassung der gemeinsamen Ambitionen. Unter deutschem EU-Vorsitz wurde schließlich 2007 der Lissabonner Vertrag angenommen. Es war damals ein schwerer politischer Kampf.

Der Lissabonner Vertrag, der 2009 in Kraft trat, hat auf Demokratisierung durch Mehrheitsentscheidungen gesetzt, auf mehr Kompetenzen für das Europäische Parlament, auf mehr Bürgerbeteiligung.
Klingt gut, nur in der Praxis entwickelte sich schnell eine Rückwärtsbewegung die im Grunde die klaren Fortschritte im institutionellen Bereich für die Kommission und für das Europa Parlament ausbremste.

In der Praxis wurde der Europäische Rat der Staats-und Regierungschefs zum Eckpfeiler der EU-Politik. Er riss vieles an sich, was er im Nachhinein nicht im Stande war zu lösen. Die Migrationspolitik der letzten Jahre ist hier vielleicht das beste Beispiel.

Im zuständigen Ministerrat für Migrationsfragen haben viele Minister Anweisungen ihrer Regierungen erhalten nicht mehr zu verhandeln, sondern nur noch entweder „Nein“ zu sagen oder auf den Europäischen Rat zu verweisen, weil Migrationsfragen kapitale Fragen auf nationaler Ebene seien.

Wir wissen, dass der Europäische Rat, und das war genau das Ziel derer, die den Ministerrat gezielt ausschalten wollten, nur im Konsens, also einstimmig zu Entschlüssen kommen kann.
Resultat: Die Neinsager – die Blockierer – haben die Karten in der Hand. Es kam, wie wir wissen, seit 2015 keine europäische Lösung der Migrationsfrage zustande.

Die Geschichte riskiert hart mit der EU ins Gericht zu gehen. Welches Bild gibt Europa heutzutage von sich ab? Ein Europa, das sich seit seiner Gründung für Solidarität, Menschenrechte und Freizügigkeit eingesetzt hat oder ein Europa das, genauso wie andere, nur noch auf Abschottung und Angst vor dem Fremden setzt?

2015 hat die europäische Kommission ihre Agenda über die Migrationspolitik vorgeschlagen. Sie war und ist ein globaler Ansatz um eine korrekte Migrationspolitik in der EU zu führen. Der Migrationsdruck soll verringert werden für Personen, die kein Anrecht auf Schutz in der EU haben, während die EU weiterhin ihren internationalen Verpflichtungen beruhend auf der Genfer Menschenrechtskonvention nachkommt. Die legale Migration soll über geregelte und kontrollierte Wege, sprich ohne Schlepper, organisiert werden. Dies war auch die Quintessenz des Valletta-Gipfeltreffens mit Afrika 2015.

Mehr als drei Jahre danach stimmt es mich traurig, dass die EU in diesem Ansatz größtenteils versagt hat, dass der Großteil unserer Reformen, allen voran die Reform des Dublin-Verfahrens, riskiert zu scheitern. Auch wenn laut Kommissionspräsident Juncker und Präsident des Europäischen Rates Tusk die EU es fertiggebracht hat, dass der Migrationsdruck während den letzten vier Jahre um 90% zurückgegangen ist. Ich glaube nicht, dass wir es uns leisten können, eine solche Statistik als Erfolg darzustellen. Hier ist eine Relativierung vonnöten. Die Frage stellt sich außerdem, wie es möglich war, dass eine kleine Minderheit von Mitgliedsstaaten den anderen einen Stillstand aufzwingen konnte?

Verschiedene Staaten angeführt von den Herren Orban und Kurz haben die Institution des Europäischen Rates für ihre Zwecke missbraucht indem die Migrationspolitik bei dem Staats- oder Regierungschef immer wieder diskutiert wurde. Dadurch, dass der Europäische Rat mit seinen politischen Schlussfolgerungen nur im Konsens arbeiten kann, haben sie die Mehrheitsbestimmungen des Lissabonner Vertrages im legislativen Bereich schachmatt gesetzt. Der Europäische Rat konnte in keinem Moment die entscheidenden Impulse geben. Ganz im Gegenteil.

Diese Entwicklung steht, wie schon gesagt, in totalem Gegensatz zur Gemeinschaftsmethode.

Der Europäische Rat arbeitet noch immer auf einer intergouvernementalen Basis. Alle Staaten müssen einer politischen Entscheidung zustimmen. Das Resultat ist leider nur zu oft Stillstand, Lähmung, Handlungsunfähigkeit und eine EU, die den Platz auf der internationalen Bühne, der ihr zusteht, nicht einnehmen kann.

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