Friedenspreise für Ökonominnen und Ökonomen – ein Missverständnis?

Vor kurzem erhielt der Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen den Friedenspreis des deutschen Buchhandels für sein Lebenswerk. Doch was hat Ökonomik eigentlich mit Friedensprozessen zu tun? Studienleiter Martin Waßink erläutert in seinem Beitrag die Hintergründe und schreibt, warum auch er ein Verfechter der “pluralen Ökonomik” ist.

An welche Fachrichtungen denken Sie, wenn Sie nach den wissenschaftlichen Disziplinen bisheriger Empfängerinnen und Empfänger renommierter Friedenspreise gefragt würden? Würden Sie eine Ökonomin oder einen Ökonomen als würdige(n) Preisträger(in) in Betracht gezogen? Schließlich wird das Wirtschaftsleben und ihre Logik dahinter doch von Kampf im Sinne von Wettbewerb und Konkurrenzdenken bestimmt.

Vor kurzem erhielt der Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen tatsächlich den Friedenspreis des deutschen Buchhandels für sein Lebenswerk: Dieses umfasst die Konzeption der Sozialwahltheorie (“Social-Choice-Theorie”) als Gegenpart zum vorherrschenden Dogma der Ökonomik. Auch leistet Sen viele Beiträge zur Erforschung ökonomischer Ungleichheit genauso wie zur Armut und Entwicklungspolitik. Darüber hinaus ist er für seinen Fähigkeiten-Ansatz (capability approach) und dem von ihm entwickelten Human Development Index (HDI) bekannt, mit dem die UN wirtschaftliche Entwicklung inzwischen misst. Er half, systematisch neue Wege aus der Armut konkret aufzuzeigen.

Wirtschaftssysteme – und ihre dahinter liegenden Menschenbilder

Sens Arbeiten als Wirtschaftswissenschaftler sind tatsächlich unytpisch wenn man auf die vergangenen Jahrzehnte zurückblickt: Die Ökonomik beschäftigt sich definitionsgemäß mit dem Verhalten von Menschen bei Knappheit. Methodische Konzepte wie Preisdifferenzierung und komparative Vorteile mit der grundlegenden Maxime der Gewinnmaximierung sprechen eine eindeutige, wenig friedliche Sprache. Auf den in dieser Denktradition verliehenen Wirtschaftsnobelpreisträger aus dem Jahre 1975, Milton Friedman, geht der Ausspruch zurück: “Wäre die freie Marktwirtschaft nicht das effizienteste System, ich wollte sie trotzdem – wegen der Werte, die sie repräsentiert: Wahlfreiheit, Herausforderung, Risiko.” Damit bereitete Friedman mithilfe des persönlichen Reputationsgewinns durch den Preis auch den Weg zur Ausbreitung  unverhohlener Ideologien und radikaler Konzepte mit libertärem Laissez-Faire: Der klassische Ordo-Liberalismus mit einer klaren Rolle staatlichen Handelns für die Gemeinschaft wurde gekapert von einer Doktrin maximaler persönlicher und monetärer Freiheit des Einzelnen. Das dahinter liegende Menschenbild reduzierte uns von komplexen, sozialen Wesen auf die allgemeine Verhaltensannahme des “Homo oeconomicus”. Die Handlungsmotivation bzw. Präferenzen dieses Typus Mensch als rationaler Nutzenmaximierer kann an seinen getroffenen Entscheidungen abgelesen werden (“Rational-Choice-Theorie”) oder salopp: Mehr ist immer besser als weniger.

Einen 180 Grad Kontrapunkt dazu setzt nun eben der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen. Er argumentiert, dass Menschen auch aus Verpflichtung handeln. Wir tun Dinge ohne irgendeinen eigenen Vorteil zu suchen – eben aus moralischen Gründen im weitesten Sinne. Das sonst vorherrschende ökonomische Dogma der rationalen Wahl müsse daher falsch sein. Zeit seines wissenschaftlichen Wirkens an renommierten Universitäten wie der London School of Economics oder University of Cambridge betonte der jetzt 86-Jährige, dass moralisches Handeln und ethische Entscheidungen die vorherrschenden Handlungsmaximen für Menschen sind.

Die Art der Perspektive und die Motivation zu wissenschaftlichem Arbeiten im Sinne von genauem Hinsehen und Erklären der Realität wurzelte bei Amartya Sen wohl auch in Kindheitserlebnissen. In seiner indischen Heimat wuchs er inmitten von Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen auf. Er erlebte in den 1940er Jahren Hungersnöte im damals britisch-englischen Bengalen, die ihn prägten. Das Schicksal der Fesseln von Armut im unmittelbaren Umfeld machten ihn zu einem rastlosen Wegbereiter interdisziplinärem Denkens und Arbeiten. Seine Vision: Hungersnöte zu vermeiden, wie er sie selbst erlebt hatte. Nach seiner Doktorarbeit in Wirtschaftswissenschaften konzentrierte er sich auf Ethik und Politische Philosophie.

Armutsbekämpfung und Entwicklungspolitik in den Blick nehmen

Zu noch höheren Meriten kam einer seiner Landesmänner: Der Friedensnobelpreis ging an Muhammad Yunus, der diesen im Jahr 2006 für sein Konzept der Armutsbekämpfung mittels Mikrokrediten bekam (mehr dazu hier).

Selbst der Wirtschaftsnobelpreis legte in den letzten Jahren zunehmend einen anderen Fokus innerhalb der eigenen Disziplin – auf ein umfassenderes Verständnis menschlichen Handelns und auf Praxisnähe: Im Jahr 2013 erhielt Prof. Robert J. Shiller den Preis für die überzeugende Berücksichtigung psychologischer Faktoren und das Konzept des “Herdenverhaltens” an der Börse (Hinweis: Prof. Shiller wird an der Online-Tagung “Ökonomische Narrative im Kontext von Krisen” vom 27. bis 29.11.2020 als Vortragender dabei sein – weitere Infos hier). Und letztes Jahr teilte sich Prof. Esther Duflo (mit Abhijit Banarjee und Michael Kremer) den Wirtschaftsnobelpreis für die Erkenntnisse derArmutsforschung zur Wirkung von eben jenen Mikrokrediten in Entwicklungsländern für die eben schon Jahre zuvor der Friedensnobelpreis verliehen worden war.

Ich bin jedenfalls sehr froh, dass auch meine wissenschaftliche “Wiegendisziplin” wichtige Themen wie Armutsbekämpfung und Entwicklungspolitik umfassend und reflektiert in den Blick nimmt. So werden Koryphäen mit einem menschlich umfassenden und praktischen Denken und Handeln aufs Podest gestellt und als Vorbilder benannt. Damit verstärkt sich ein Trend, der in Deutschland auch unter dem Begriff “plurale Ökonomik” bekannt ist und deren Vertreterinnen und Vertreter mit ihrer interdisziplinären Haltung die Reputation eines ganzen Fachbereichs auch ändern kann. Gut so! Und dann, ja dann werden Ökonominnen und Ökonomen immer wieder auch zu anerkannten Friedensstifterinnen und Friedensstiftern.

Autor Martin Waßink ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie Tutzing für Wirtschaft und Arbeitswelt, Nachhaltige Entwicklung.
Mehr über ihn lesen Sie hier.

 

Bild: Martin Waßink (Foto: ma/eat archiv)