Aus Gelerntem lernen

In Bayern beginnt bald das neue Schuljahr – nach einem, das von Corona durcheinander gewirbelt wurde und Fragen aufwarf, die zwar schon länger gestellt werden, aber umso dringender beantwortet werden müssen. Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), wirbt in ihrem Gastbeitrag für unseren Rotunde-Blog für einen ehrlichen Aufbruch im Schulwesen.

Eine Krise besteht laut Psychologen aus folgenden Abschnitten: Schock, Reaktion, Bearbeitung, Neuorientierung. Was in dieser Auflistung so pragmatisch und nachvollziehbar klingt, ist selbstverständlich in der Realität alles andere als einfach und ganz anders.

Am Montag, den 16. März wurden in Bayern alle Schulen geschlossen und zu Beginn war uns allen in der Gesellschaft noch gar nicht klar, wie lange diese Schulschließungen andauern würden. Wir waren alle zusammen im Schockzustand. Sowas hatte es in unserer jüngeren Geschichte noch nie gegeben. Die Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung war erst einmal das Wichtigste, alles andere musste zurückstehen, darin waren sich alle einig.

Aber bereits nach einigen Tagen im Lockdown gab es schon ängstliche Nachfragen von manchen Eltern: Wird mein Kind Nachteile erleiden? Was ist mit dem Übertritt von der Grundschule auf das Gymnasium? Wird mein Kind studieren können? Wird es ein erfolgreiches Berufsleben vor sich haben? Wie kann ich es bestmöglich unterstützen? Was tun eigentlich die Lehrerinnen und Lehrer?

Andere Eltern konnten sich diese Fragen aufgrund ihrer persönlichen Situation gar nicht stellen. Sie waren aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage, ihr Kind beim Lernen zu Hause zu unterstützen.

Wir Lehrerinnen und Lehrer haben unser Möglichstes getan und reagiert, um all die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen auch ohne regulären Schulbetrieb befriedigen zu können. – Oder doch nicht? Übrigens all das ohne bereitgestellte digitale Endgeräte, bestehende Infrastrukturen für digitale Lehrmöglichkeiten, Kommunikationsplattformen oder Online-Konferenzlösungen – kurz: ohne ein digitales Gesamtkonzept. Zum Teil mit ausgedruckten Arbeitsblättern, die die Lehrkraft persönlich vorbeibrachte, damit Kinder ohne digitale Endgeräte nicht noch weiter abgehängt wurden. Auch wenn hier der persönliche Kontakt oftmals wichtiger war als die Wissensvermittlung: Den Kindern und Jugendlichen gab dies zumindest ein wenig Halt – vor allem emotional.

Das alles geschah in einer Situation massiven Lehrermangels an Grund-, Mittel- und Förderschulen. Klar ist: In einem Krisenmodus muss man immer improvisieren. Aber seien wir mal ehrlich: Erst durch Corona wurden uns allen die großen Fallstricke in der Bildungspolitik in Gänze aufgezeigt und erst so richtig bewusst – wie in einem Brennglas!

Digitalisierung in der Schule: Seit Jahren gab es kaum Fortschritte an den Schulen und auf einmal soll alles am besten über Nacht funktionieren. Die Lehrerinnen und Lehrer vor Ort können diesen Prozess jedoch nicht alleine bewältigen, hier braucht es einerseits viel finanzielle und andererseits auch zeitliche Ressourcen. Wenn man bedenkt, dass in Unternehmen ganze Abteilungen mit Change Management-Prozessen betraut werden, kann dies an den bayerischen Schulen nicht ohne Struktur und Plan nebenbei während des regulären Unterrichts funktionieren.

Bildungsgerechtigkeit: OECD-Studien zeigen für Deutschland seit langem, dass der Zusammenhang zwischen dem Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen und dem sozioökonomischem Hintergrund der Familien, aus denen diese stammen, signifikant ist. Diese Schere ging in der Coronakrise noch weiter auseinander. Die Defizite der Kinder und Jugendlichen werden sich weiter vergrößern und negative, gesellschaftliche Folgen haben, wenn wir nicht mit aller Macht dagegen steuern.

Förderung, Individualisierung und Differenzierung im Unterricht: All das ist gerade jetzt wichtiger denn je, denn die bestehende Heterogenität der Schülerinnen und Schüler (siehe auch „Bildungsgerechtigkeit“) ist durch die Coronakrise noch vergrößert worden. Daher braucht es individuelle Lernarrangements, die spezifisch auf die Kinder und Jugendlichen abgestimmt sind. Denn sowohl lernschwache als auch lernstarke Schüler brauchen jetzt unsere volle Aufmerksamkeit und konkrete Unterstützung.

Primat der Fachlichkeit: Was ist eigentlich Aufgabe von Schule? Was ist Leistung? Akademisches, traditionelles und fachliches Lernen mit Noten und Zertifizierungen? Auf einmal waren diese in der Coronakrise gar nicht mehr wichtig: Kein Durchfallen, keine Noten, Lernen um des Lernens willen. Das bulimische Lernen, wie wir es immer kannten, darf nicht weiter im Fokus von Schule stehen. Es darf nicht mehr nur um reine Inhalte, sondern es muss insbesondere um die Aneignung von Kompetenzen gehen.

Wir waren wie in einem Schock: Wir versuchten alles, um irgendwie zu reagieren. Aber jetzt müssen wir uns neu orientieren, denn Gelerntes darf nicht mehr verlernt werden. Wenn uns als Gesellschaft bewusst geworden ist, dass all die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten im Bildungssystem hinterfragt werden müssen, dann sollten wir dies gemeinsam tun. Wenn wir sehenden Auges kein Kind und keinen Jugendlichen verlieren wollen, müssen wir uns all den Fragen stellen, die jetzt auf der Hand liegen: Was soll die Schule von morgen eigentlich leisten? Was ist eigentlich Aufgabe von Schule? Welche Kompetenzen benötigen wir in der Welt von morgen? Wie viel Digitalisierung und wie viel menschliche Beziehung braucht Pädagogik? Oder eben beides? Wie werden Kinder und Jugendlichen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern?

Und wenn wir all diese Fragen offen und ehrlich diskutieren, muss uns klar sein, dass all die Erwartungen und Anforderungen an Schule, die schon seit Jahren immer vielfältiger und größer werden, nicht in einer fortwährenden Situation von Lehrermangel bewältigt werden können. Eine zukunftsweisende, auf pädagogischen Fundamenten basierende Bildung und Erziehung muss uns mehr wert sein und kann definitiv nicht mit der gleichen Anzahl oder gar weniger Personal umgesetzt werden. Dann müssen wir unsere Erwartungen an die Leistungen von Lehrerinnen und Lehrern herunterschrauben und ehrlich zugeben, dass all die Anforderungen an eine Schule von morgen nicht realisierbar sind.

Wenn wir über Wertschätzung von Pädagogik sprechen und mehr Menschen für diesen Beruf begeistern wollen, muss ebenfalls endlich offen die Frage diskutiert werden, warum die Leistung eines Lehrers aus der Grund- und Mittelschule eigentlich weit geringer bezahlt wird ist als die einer Realschul- oder Gymnasiallehrerin.

Für uns als Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband steht immer der ganze Mensch und seine ganzheitliche Entwicklung im Mittelpunkt. Daher vertreten wir einen ganzheitlichen Bildungsbegriff, der alle Facetten abbilden muss: Wir wollen eine Schule mit Herz, Kopf und Hand.

Lassen Sie uns Gelerntes keinesfalls verlernen.

Lassen Sie uns gemeinsam und ehrlich den Aufbruch wagen.

Simone Fleischmann, BLLV-Präsidentin

Hinweis:
Im Gesprächsformat “RotundeTalk” der Evangelischen Akademie Tutzing sprach Simone Fleischmann mit Akademiedirektor Udo Hahn über die Herausforderungen für den Schulbetrieb im Zusammenhang mit Corona und darüber hinaus. Das Video ist auf dem YouTube-Kanal der Akademie unter diesem Link abrufbar.

Bild: Simone Fleischmann (Foto: ma/eat archiv)