Alles, was die Menschen bewegt

Nach elf Jahren als Studienleiterin für Soziales, Familie und Generationen, Geschlechter- und Gleichstellungsfragen sowie Geschichte an der Evangelischen Akademie Tutzing wechselt Dr. Ulrike Haerendel zum Oktober 2020 an die Universität der Bundeswehr. Im Interview blickt sie auf ihre Zeit in Tutzing zurück.

Mit großem Dank und Anerkennung hat Akademiedirektor Udo Hahn Studienleiterin Dr. Ulrike Haerendel aus ihrem Dienst verabschiedet. “Sie sind das soziale Gewissen der Evangelischen Akademie Tutzing”, so Hahn im Blick auf ihre inhaltliche Arbeit. Darüber hinaus habe sie als Historikerin geholfen, “diesen Ort noch einmal neu zu entdecken.” Ihr historisches Schwerpunktthema, die NS-Zeit, sei für die Akademie “Glück und Geschenk zugleich” gewesen – auch, weil es immer gilt, die Verbindung zu dieser Zeit zu wahren als Teil der Identität, die uns prägt.

In diesem Interview blickt Dr. Ulrike Haerendel zurück auf die vergangenen elf Jahre als Studienleiterin in Tutzing.

Evangelische Akademie Tutzing: Frau Dr. Haerendel, Ihr Referat hatte in den vergangenen Jahren den breitesten Zuschnitt von allen. Wie haben Sie diese Bandbreite erlebt?

Ulrike Haerendel: Ob es wirklich den breitesten Zuschnitt hatte, möchte ich dahingestellt sein lassen, aber es hatte wohl den längsten Titel. Schon als ich 2009 als Studienleiterin angefangen habe, waren mir “Soziales, Familie und Generationen, Geschlechter- und Gleichstellungsfragen” zugedacht. Dazu habe ich mir dann noch – als Historikerin – die Geschichte “geschnappt”, die in anderen Referaten zwar immer wieder aufgegriffen wurde und wird, die aber keinen festen Platz hatte. Ich habe diese Bandbreite als bereichernd wahrgenommen, weil ich es dadurch mit unterschiedlichen Zielgruppen – von jungen Familien bis zu älteren Zeitzeugen, von fachlich und professionell befassten bis zu einfach interessierten Menschen – zu tun bekommen habe. Außerdem werden all diese Fragen unter dem Dach “Gesellschaft” zusammengehalten und werden von Leuten repräsentiert, die ich als kluge, empathische und für die entscheidenden Problemlagen unserer Gesellschaft höchst sensible Experten kennengelernt habe. Zuletzt, haben die Dinge mehr miteinander zu tun, als man auf den ersten Blick meint. Das Thema “gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit” wurde etwa auf verschiedenen Tagungen aufgegriffen, die sich mit Genderfragen, mit der Migrationsgesellschaft oder mit Erinnerungspolitik befasst haben. “Aufarbeitung der Vergangenheit” ist nicht mehr nur Thema mit Blick auf den Nationalsozialismus, sondern auch für Menschen, die Missbrauch in der Kindheit erfahren haben.

Für welche Errungenschaften und Ergebnisse aus der Tagungsarbeit sind Sie besonders dankbar?

Für das Gefühl, Menschen an diesem schönen Ort nicht nur „gute Unterhaltung“ und intellektuellen Input geboten zu haben, sondern etwas, das darüber hinaus oder – vielleicht eher – tiefer geht: Ich denke zum Beispiel an unsere Veranstaltung mit über einhundert ehemaligen “Heimkindern”, die oft sehr unter einem schlechten Start ins Leben gelitten haben und denen in unserem Auditorium die oft vermisste Anerkennung ihres Leids durch offizielle Instanzen und die Wissenschaft ausgesprochen wurde. Auch für mich persönlich ist noch mehr als die – durchaus erhebliche – Erweiterung meines Wissensfundus das wertschätzende Feedback kostbar, das viele Tagungsgäste nach zwei erfüllten Tagen geben. Und stolz ist man natürlich, wenn man auch den politischen Diskurs in Berlin mal mitbewegen kann. Ich nenne als Beispiel unsere Rententagung im letzten Februar, deren Ergebnisse bis hinein in die Rentenkommission der Bundesregierung gewirkt haben.

Welche Debatten und Themen sollten wir nicht aus den Augen verlieren?

Generell ließe sich das beantworten mit: alle, die die Menschen jeweils bewegen. Aber um es konkreter zu machen: Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind sicher ein Feld, in dem die Gesellschaft in Zukunft viel Neues aushandeln muss – genau wie seit einigen Jahren schon in der Migrationspolitik. Für eine zentrale Aufgabe der Akademie, die so reich beschenkt ist – mit dem herrlichen Schloss und dem Park, mit den notwendigen Ressourcen, mit ihr gewogenen Menschen … – halte ich es auch, sich immer wieder weniger privilegierter Menschen und ihrer Themen anzunehmen: Geflüchteter, prekär Lebender, der Opfer von Gewalt, Missbrauch und Diskriminierung und vieler mehr. Und – auch wenn das Thema nicht in meinem Portfolio stand – Fragen einer nachhaltigeren und umweltschonenderen Lebensweise, die sind einfach allesentscheidend.

Ungefähr 150 Veranstaltungen haben Sie hier konzipiert und begleitet: Kamingespräche, Frauenmahle, Podiumsdebatten, Tagungen und vieles mehr. Welche Momente und Begegnungen aus Ihrer Zeit als Studienleiterin werden Ihnen besonders im Gedächtnis bleiben?

Ich greife eines vom Anfang meiner Zeit in Tutzing und eines vom Ende heraus: 2009 haben wir, kurz nachdem ich angefangen hatte, einen Studientag zu “Schutzräumen für Kinder” mit der Peter-Maffay-Stiftung veranstaltet, bei dem mir schlagartig klar wurde, was da in Tutzing alles zusammengeht: große Politik und kleine Menschen, also Kinder, theologische Auslegung und schmerzende Berichte aus der sozialen Arbeit, Lebenskünstler und Unternehmensberater, Vorträge und Musikperformance, mit Ursula von der Leyen über Vereinbarkeitsfragen reden und mit Dieter Thomas Heck ein Bier trinken …

Und von ganz ähnlichem Geist getragen war zehn Jahre später der Studientag “Werte – voneinander lernen”, den wir für Asylhelfende veranstaltet haben. Auch hier die Mischung aus sozialem Engagement, politischer Kritik und der Freude am gemeinsamen Event, dieses Mal von Hans Well und seiner Familie begleitet. Solche beglückenden Tagungserlebnisse könnte ich viele nennen, und sie gehören auch für mich nicht der Vergangenheit an. Ich habe durchaus vor, noch die eine oder andere Tagung an der Evangelischen Akademie Tutzing als Gast zu besuchen.

Das Interview führte Dorothea Grass

Bild: Dr. Ulrike Haerendel (Foto: ma/eat archiv)

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