Deutschland nach der Wahl – Schlaglichter aus der Herbsttagung des Politischen Clubs

Den „Rückblick auf ein (politisch) turbulentes Jahr 2017“ wagte die Herbsttagung des Politischen Clubs vom 17. bis 19. November. Dass dies kein leichtes Unterfangen werden würde, war Akademiedirektor Udo Hahn schon bei der Begrüßung im mit mehr als 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausgebuchten Musiksaal des Hauses klar. Man müsse kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass es in den kommenden Wochen noch viele Überraschungen geben dürfte, auch unliebsame. Nur wenige Stunden nach Abschluss der Tagung erklärten die Parteien, die sich anschickten, eine Jamaika-Koalition zu bilden, das Scheitern ihrer Bemühungen…

Doch der Reihe nach. Der Leiter des Politischen Clubs, Bundestagspräsident a. D. Dr. Wolfgang Thierse, wies in seiner Einführung darauf hin, dass sich ein zwiespältiges Bild biete. Die Menschen meinten, es gehe ihnen gut – zugleich befürchteten sie, dass es nicht so bleibe. Als Gründe führte er an, dass die soziale Spaltung in Deutschland zunehme und das Armutsrisiko steige. „Von der Euphorie der Jahre 1989/90 ist nichts mehr zu spüren“, so Thierse. Zu den Fragen, auf die die Menschen eine Antwort suchten, gehöre nach wie vor das Flüchtlingsthema. Es zeichne sich ab, dass auf Deutschland größere Herausforderungen zukämen als nach 1989. Auf der Listen stünden u.a. auch diese Themen: Globalisierung, Finanzkrise, Digitalisierung, Ökologie, Islamismus, Kriege, die Schwäche der Vereinten Nationen, der Brexit. Mit diesen Stichworten verbinde sich das Gefühl, die Kontrolle über die eigene Zukunft verloren zu haben. Und dann sei da auch noch die Wiederkehr „alter Geister“ – des Nationalismus, des Rassismus.

Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gesine Schwan vertrat die These: „Wenn die Europäische Union nicht einen neuen Weg einschlägt, wird sie an ihr Ende kommen.“ Die EU gehe kaputt, wenn die Nationalstaaten ihre jeweilige Macht ausbauten. Um die Probleme lösen zu können, müssten einerseits transnationale Strukturen mehr Gewicht bekommen, andererseits die Regionen. Dies gelte insbesondere für die Flüchtlingskrise. Hier gebe es auf lokaler Ebene viele positive Ansätze. Statt „von oben“ anzuordnen, müssten die Ideen „von unten“ kämen, unterstützt werden. Es gehe nicht, den zivilgesellschaftlichen Akteuren die Lösung vor Ort aufzubürden. Es müssten offizielle Strukturen geschaffen werden, die der lokalen und regionalen Ebene mehr Handlungsspielraum gewähren. Sie forderte einen europäischen Fonds, dessen Mittel nicht bei den Regierungen landeten, sondern in den Kommunen. Die Flüchtlingsthematik könne so viel besser bearbeitet werden.

„Wir unterschätzen, wie sich Deutschland durch seine politische Stabilität, die es hat, auszeichnet“, leitete Bundestagspräsident a. D. Prof. Dr. Norbert Lammert seinen Rückblick auf 37 Jahre parlamentarisches Leben ein. Deutschland unterschätze auch seine Innovationskraft, die mit der politischen Stabilität zusammenhänge. Und er fragte: „Wäre die Soziale Marktwirtschaft durch eine Volksabstimmung eingeführt worden?“ Am stärksten sieht Lammer den Föderalismus gefährdet. Hier habe es so gut wie keine Innovation gegeben. So seien die Stadtstaaten in Deutschland „faktisch unter Denkmalschutz gestellt“ und der Bund ziehe immer mehr Kompetenzen an sich. Im Blick auf den Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag wies er darauf hin, dass Deutschland eine Entwicklung nachvollziehe, die in Europa schon länger zu beobachten sei. Dies hätten aber die Wähler selbst in der Hand. Im ersten Deutschen Bundestag habe es elf Parteien gegeben. Der Wählerwille habe dann zu einem drei-Parteien-System geführt. Für problematisch hält Lammert, dass populistische Kräfte „einen Volkswillen“ propagierten. Diese gebe es aber nur im Plural. Er sei keine verfügbare Größe. „Deshalb ist es die Aufgabe der Demokratie, den Willensbildungsprozess zu gestalten.“ Kritisch setzte sich Norbert Lammert auch mit den Talkshows im Fernsehen auseinander. Dort habe der die Unterhaltung Vorrang vor der Information. „Das Problem ist nicht, dass das Fernsehen Unterhaltung bietet, sondern dass aus allem Unterhaltung gemacht wird.“

Ruprecht Polenz, ehemaliger Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, beschrieb 2017 als „Jahr fortschreitender Fragmentarisierung“. Er machte dies an den Entwicklungen in Syrien und im Irak fest, aber auch in Katalonien sowie am Brexit fest. Hinzu komme, dass sich die USA aus den multilateralen Beziehungen zunehmen herauslösten. Die Welt werde multipolarer: „weniger USA, mehr China und Russland“. Keine einzige internationale Krise habe im zu Ende gehenden Jahr gelöst werden können. Für Deutschland werde die EU immer wichtiger. Hinzu komme, dass Deutschland sich noch viel solidarischer zeigen müsse – im Blick auf Frankreich und Griechenland. Polenz sprach in diesem Zusammenhang von „servant leadership“, einer dienenden Führung, bei der vom Starken mehr erwartet werde. Eine Minderheitsregierung könne sich Deutschland nicht leisten, sagte Polenz wenige Stunden vor dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen.

Rolf Mützenich, stellv. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, meinte, die Welt sei früher auch nicht besser gewesen. Gleichwohl stünden wir vor „Kipp-Punkten“. Es seien all jene Regeln und Normen unter Druck, die eigentlich gelten sollten. Es müssten die Regelbrecher geächtet und das Völkerrecht gestärkt werden. Die Unsicherheit durch ungeregelte Rüstung potenziere sich, so Mützenich.

Für Richard Hilmer, Mitbegründer und ehemaliger Geschäftsführer von Infratest dimap, markiert der Ausgang der Bundestagswahl eine Zäsur: Die Große Koalition habe aufgrund einer „ambivalenten Grundstimmung“ verloren. Die ausgeprägt positive ökonomische Grundstimmung sei von einer gesellschaftlichen Unsicherheit überlagert gewesen. Sie basiere auf der Wahrnehmung einer zunehmenden sozialen Schieflage und einer Vielzahl von Sorgen vor der künftigen Entwicklung, so Hilmers These. Die Unionsparteien hätten verloren, weil sich bei den Bürgern zunehmen das Gefühl einstellte, dass die Bundeskanzlerin und die nach links gerückte CDU problematische Entwicklungen vernachlässigt habe und ihr Pragmatismus – „Wir schaffen das“ – für die Lösung der Probleme nicht mehr ausreiche. Die SPD habe verloren, weil sie der Entwicklung keine eigenen Lösungskonzepte entgegenzusetzen vermochte und in der Großen Koalition nicht als eigenständige Kraft erkennbar gewesen sei. Das starke Abschneiden der AFD bezeichnete Hilmer als Ausdruck des Gefühls persönlicher Zurücksetzung und Verunsicherung, die eigene Zukunft betreffend. Der AfD sei es gelungen, wachsende latente Unzufriedenheit mit der Politik in aktiven Protest zu überführen. Wichtigster Treiber für die Wahlentscheidung zugunsten der AfD sei die Kritik an der Migrationspolitik der Großen Koalition gewesen.

Volker Beck, früherer Migrations- und religionspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, analysierte, dass die Freiheitsrechte nicht populär seien. Im Blick auf die Flüchtlingsthematik werde die so wichtige Humanität als „Gnade von oben herab“ verstanden. Dabei gehe es konkret um Flüchtlingsrechte. Zudem beobachte er einen „säkularistischen Angriff“ auf Freiheitsrechte. Er öffentliche Raum, so Beck, dürfe nicht von religiösen Symbolen gereinigt werden. Und er fügte hinzu: „Wer für Freiheitsrechte eintritt, muss sich gegen den Wind des Populismus stellen.“

Bundesministerin a. D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit dem Comeback des politischen Liberalismus in Deutschland. Selbstkritisch merkte sie an, dass zuletzt die Verengung auf Steuerthemen nicht gut gewesen sei. Die FDP sei „zu wenig konsequent liberal“ gewesen. Man habe ihr die Antwort auf grundlegende Fragen nicht zugetraut. Es müsse jetzt weder um einen „ganzheitlichen Liberalismus“ gehen, so ihr Plädoyer. Die FDP müsse als Bürgerrechtspartei Profil zeigen. Im Blick auf die Digitalisierung mahnte sie, es dürfe diese nicht um jeden Preis geben.

Gerda Hasselfeldt, ehemalige Vorsitzende der CSU-Landesgruppe und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, wies darauf hin, dass Zukunftsängste den Ausgang der Bundestagswahl entschieden hätten. Dabei sei es schwierig, Ängsten mit Argumenten zu begegnen. Zudem habe der Streit innerhalb der Union die Wähler verunsichert. In der veränderten Medienwelt sei die politische Bildungsarbeit heute wichtiger denn je. Dabei machte sie sich auch für mehr Sozialkunde in der Schule stark.

Bilanzierten das Reformationsjubiläum: der ehamalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider und seine Frau Anne, Theologin und Religionslehrerin.

Die Journalisten Hans Monath und Nico Fried analysierten die Koaltionserhandlungen. Ihre vorsichtige Analyse, dass die Jamaika-Koalition gelingen könnte, bewahrheitete sich dann doch nicht.

Frank-Markus Barwasser brillierte in seiner Rolle als Erwin Pelzig mit wie gewohnt kritisch-nachdenklichen Tönen.

Dr. Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D., Leiter des Politischen Clubs und Frank-Markus Barwasser, Journalist und Kabarettist

Prof. Dr. Gesine Schwan

Politik-Analysen sorgten für lebhafte Diskussionen.

Prof. Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages a.D. und Akademiedirektor Udo Hahn